Samstag, 25. Dezember 2010

nichtlineare dynamik in der physik

Nichtlineare Dynamik in der Physik:
Forschungsbeispiele und Forschungstrends
J ̈rgen Kurths, Norbert Seehafer und Frank Spahn
u
Institut f ̈r Physik, Max-Planck-Arbeitsgruppe f ̈r Nichtlineare Dynamik,
u
u
Universit ̈t Potsdam, PF 601553, D–14415 Potsdam, Germany,
a
e-mail: jkurths@agnld.uni-potsdam.de
1
Einleitung
Nichtlineare Prozesse sind in Natur, Technik und Gesellschaft weit verbreitet.
Bei der Untersuchung dieser Ph ̈nomene gibt es heute schon große Fortschritte,
a
die sich aber haupts ̈chlich auf Systeme mit wenigen Freiheitsgraden (niedrig-
a
dimensionale Systeme) beziehen. Reale komplexe Systeme sind allerdings im
allgemeinen hochdimensional; typische Beispiele daf ̈r finden sich in den Erd-
u
und Umweltwissenschaften oder der Astrophysik. Schwerpunkt sind dabei Fra-
gestellungen zu kritischen Ph ̈nomenen, z.B. Klima-relevante Variationen der
a
Sonnenaktivit ̈t oder die Vorhersagbarkeit starker Erdbeben. Diese nat ̈rlichen
a
u
Systeme, die meist fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht sind, zeich-
nen sich durch vielf ̈ltige komplexe R ̈ckkopplungen und reichhaltige Dynamik
a
u
in einem breitbandigen Spektrum raumzeitlichen Verhaltens aus; sie sind eine
besondere Herausforderung f ̈r die Nichtlineare Dynamik.
u
Das f ̈r niedrigdimensionale Systeme entwickelte Instrumentarium, wie et-
u
wa Bifurkationsanalyse oder Charakteristik mittels fraktaler Dimensionen, l ̈ßt
a
sich nicht einfach auf die Analyse derartiger großskaliger nat ̈rlicher Systeme
u
ubertragen. Im Unterschied zu Laborexperimenten, in denen die experimentel-
 ̈
len Bedingungen weitgehend kontrollierbar sind, ergeben sich bei Messungen
nat ̈rlicher Systeme zus ̈tzliche Schwierigkeiten. Besonders hervorzuheben ist
u
a
dabei, daß derartige Messungen nicht unter gleichen Bedingungen wiederholt
werden k ̈nnen und daß es sich h ̈ufig um Beobachtungen transienter Ph ̈nome-
o
a
a
ne handelt.
Im folgenden zeigen wir an einigen Beispielen, wie derartige komplexe Pro-
zesse untersucht werden. Zun ̈chst werden Strukturbildungsph ̈nomene in ma-
a
a
gnetohydrodynamischer Turbulenz, wie sie in großskaligen kosmischen Magnet-
feldern, z.B. im Zusammenhang mit der Sonnenaktivit ̈t, entstehen, diskutiert.
a
Die Dynamik und Kinetik planetarer Ringe, deren Strukturreichtum durch die
Experimente der Voyager-Raumsonden aufgedeckt wurde, steht im Mittelpunkt
des darauffolgenden Abschnittes. Schließlich wird auf die Vorhersagbarkeit von
Erdbeben eingegangen.
Nichtlineare Dynamik in der Physik
2
53
Kontinuierliche dynamische Systeme
und astrophysikalischer Magnetismus
Abbildung 1 zeigt eine R ̈ntgenaufnahme der Sonne. Erh ̈hte Emission (helle
o
o
Regionen) ist dort zu erkennen, wo verst ̈rkt magnetische Energie in Plasma-
a
energie (W ̈rme) umgewandelt wird.
a
Abb. 1. Die Sonne im weichen R ̈ntgenlicht, am 8. Mai 1992 vom Satelliten YOHKOH
o
aus aufgenommen. Plasma mit Temperaturen uber einer Million Grad Kelvin ist sicht-
 ̈
bar. Erh ̈hte Strahlungsintensit ̈t l ̈ßt Regionen (weiß-gelb) mit starken Magnetfeldern
o
a a
erkennen und gibt dort die Topologie bogenartiger, in tieferen Schichten verankerter
magnetischer Feldlinien wieder
Alle Formen der Sonnenaktivit ̈t verdanken ihre Existenz dem variablen so-
a
laren Magnetismus. Der 22-j ̈hrige Sonnenfleckenzyklus wird durch einen im In-
a
nern der Sonne (in der Konvektionszone) arbeitenden Dynamo verursacht. Die
meisten der energetischen Erscheinungen in den  ̈ußeren Schichten der Sonne, in
a
die wir hineinsehen k ̈nnen, sind Manifestationen der Freisetzung magnetischer
o
Energie. Weiterhin liefert das Magnetfeld das Verbindungsglied zwischen den
verschiedenen Aktivit ̈tserscheinungen, wie z.B. Flecken und Eruptionen. Folg-
a
lich ist ein wesentlicher Teil der Sonnenforschung auf Magnetfelder konzentriert.
Den theoretisch-physikalischen Rahmen zum Verst ̈ndnis der grundlegenden Er-
a
scheinungen der Sonnenaktivit ̈t liefert die Magnetohydrodynamik (MHD),
a
die physikalische Theorie elektrisch leitender Fl ̈ssigkeiten.
u
Die turbulente Bewegung einer Fl ̈ssigkeit, ob elektrisch leitend oder
u
nicht, ist ein herausragendes Beispiel komplexen Verhaltens in einem r ̈umlich
a
kontinuierlichen, also unendlich-dimensionalen System und stellt eines der fun-
damentalen Probleme der Physik dar. Es ist ublich geworden, Turbulenz als
 ̈
Synonym f ̈r einen hochangeregten Zustand in einem System mit vielen Frei-
u
heitsgraden, zumeist ein kontinuierliches Medium, zu gebrauchen. Voll entwik-
54
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
kelte Turbulenz kann im allgemeinen nur statistisch, ohne explizite L ̈sung der
o
maßgeblichen Gleichungen, behandelt werden.
Im Gegensatz zu endlich-dimensionalen Systemen werden r ̈umlich kontinu-
a
ierliche Systeme durch partielle Differentialgleichungen (PDE) beschrieben,
und ihr Phasenraum ist ein Funktionenraum. Bislang gibt es nur wenige all-
gemeine mathematische Aussagen uber das qualitative Verhalten dynamischer
 ̈
Systeme, die auf Funktionenr ̈umen definiert sind. Theoretische Untersuchun-
a
gen beschr ̈nken sich zumeist auf lineare Stabilit ̈tsuntersuchungen station ̈rer
a
a
a
Zust ̈nde bzw. auf numerische Simulationen einzelner System-Trajektorien. Letz-
a
tere k ̈nnen sehr n ̈tzlich sein und z.B. auch die Charakterisierung von Attrakto-
o
u
ren erlauben. Damit bezeichnet man Zust ̈nde des Systems, die nach langer Zeit
a
o
(zeitasymptotisch) realisiert werden. Dennoch k ̈nnen Simulationen stets nur
partielle Einblicke in die Gesamtstruktur der L ̈sungsmenge liefern. Ein uber-
o
 ̈
geordnetes Ziel bei der Untersuchung r ̈umlich kontinuierlicher Systeme ist die
a
qualitative Analyse. Mit ihr werden alle m ̈glichen Attraktoren des Systems
o
bestimmt, ihre Einzugsbereiche im Phasenraum ermittelt und die bei Variation
charakteristischer, extern vorgegebener Systemparameter auftretenden Bifurka-
tionen berechnet. Als Bifurkationen bezeichnet man die qualitativen Ver ̈nde-
a
rungen der Attraktoren, einschließlich ihres Entstehens oder Verschwindens.
W ̈hrend voll entwickelte Turbulenz bisher noch eine statistische Beschrei-
a
bung erfordert, k ̈nnen Methoden der Bifurkationsanalyse benutzt werden, den
o
 ̈
Ubergang von laminaren zu turbulenten Zust ̈nden zu erforschen. Eine rea-
a
listische Modellierung etwa der Vorg ̈nge auf der Sonne erfordert die Unter-
a
suchung des vollen nichtlinearen Systems der partiellen Differentialgleichungen
der MHD, die zudem noch nichtlinear mit thermodynamischen Gleichungen ver-
koppelt sind. An die L ̈sung eines derartig komplexen Problems kann man sich
o
nur schrittweise heranarbeiten. In den folgenden Abschnitten wird auf Unter-
a
suchungen st ̈rker abgegrenzter und daher einfacherer, aber immer noch sehr
komplizierte Probleme eingegangen.
2.1
o
Extern getriebene Wirbelstr ̈mungen
Wir beginnen mit der Beschreibung von Untersuchungen, die durch Laborex-
perimente motiviert sind, welche großskalige Strukturbildung zeigen [39] [7]. Im
Experiment wird in einer d ̈nnen Schicht einer Elektrolytl ̈sung mittels exter-
u
o
ner Permanentmagnete in Kombination mit einem durch die L ̈sung geleite-
o
ten elektrischen Strom ein Feld von Str ̈mungswirbeln angetrieben. Es werden
o
die qualitativen Ver ̈nderungen der Str ̈mung bei Ver ̈nderung der elektrischen
a
o
a
Stromst ̈rke, d.h. Ver ̈nderung der Reynoldszahl (der St ̈rke des externen An-
a
a
a
triebes der Str ̈mung), untersucht. Die beobachteten Erscheinungen k ̈nnen mit-
o
o
tels der zweidimensionalen (2D) Navier-Stokes-Gleichung mit  ̈ußerer Kraft mo-
a
delliert werden [4]. Die Navier-Stokes-Gleichung ist die Bewegungsgleichung f ̈r
u
Fl ̈ssigkeiten. In ersten Untersuchungen beschr ̈nkten wir uns auf die Betrach-
u
a
tung periodischer horizontaler Randbedingungen und analysierten das dynami-
sche Langzeitverhalten in Abh ̈ngigkeit von der Reynoldszahl. Es zeigt sich, daß
a
die Symmetrie des Systems, die durch die  ̈ußere Kraft (das sogenannte Forcing)
a
Nichtlineare Dynamik in der Physik
55
und die periodischen Randbedingungen bestimmt wird, einen wesentlichen Ein-
fluß auf das Bifurkationsverhalten hat. In einer ersten Bifurkation spaltet eine
zeitunabh ̈ngige stabile L ̈sung, bestehend aus 8 × 8 Wirbeln, in sechzehn ko-
a
o
existierende instabile Zust ̈nde auf, die in einem heteroklinen Zyklus verbunden
a
sind. Letzteres bedeutet, daß diese L ̈sungen im Verlaufe der Zeit nacheinander
o
zyklisch vom System besucht“ werden. Dieser Zyklus wiederum weicht f ̈r h ̈he-
u o

re Reynoldszahlen chaotischen Zust ̈nden. F ̈r ein starke Anregung wurde eine
a
u
inverse Energiekaskade, die großskalige Strukturen bildet, beobachtet (Abb.
2). Bei direkten Kaskaden wird Energie von großen zu kleinen r ̈umlichen Skalen
a
transferiert, bei inversen Kaskaden in umgekehrter Richtung.
Abb. 2. Inverse Energiekaskade von kleinen zu großen Skalen in der 2D Navier-Stokes-
Gleichung. Bei kleinen Reynoldszahlen entsteht ein Gitter entgegengesetzt rotieren-
der kleiner Wirbel, die exakt das externe Forcing widerspiegeln (links). Bei h ̈heren
o
Reynoldszahlen erzeugt dasselbe kleinskalige Forcing großskalige Wirbel (rechts)
Die Gesamtdynamik in diesem Bereich wird durch mehrere parallel existie-
rende L ̈sungszweige mit station ̈ren, periodischen, quasi-periodischen und chao-
o
a
tischen L ̈sungen bestimmt (und nur einer der Zweige zeigt die inverse Energie-
o
kaskade).
F ̈r den Parameterbereich, in dem die großskaligen Strukturen auftreten,
u
wurden auch die Bahnen von Fl ̈ssigkeitsteilchen (Lagrangesche Dynamik) stu-
u
diert. Ziel war es, Kriterien und quantitative Maße zu finden, die die Lagran-
gesche Dynamik mit der des Geschwindigkeitsfeldes im Phasenraum in Verbin-
dung setzten. Das heißt, wir wollten verschiedene Regimes des Geschwindig-
keitsfeldes, wie z.B. periodische L ̈sungen im Gegensatz zu Chaos, mittels der
o
Lagrangeschen Bewegung von Testteilchen unterscheiden. In den numerischen
Experimenten wurden Linienelemente, bestehend aus passiven Testteilchen, in
die Fl ̈ssigkeit injiziert und deren Entwicklung verfolgt. Der Mischungsprozeß
u
ist eine sukzessive Folge von Streckungen und Faltungen, die durch einen Stre-
ckungskoeffizienten und eine Hausdorff-Dimension quantifiziert werden k ̈nnen.
o
Diese Maße zeigen f ̈r verschiedene L ̈sungszweige signifikante Unterschiede der
u
o
Lagrangeschen Turbulenz [4].
56
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Abbildung 3 zeigt eine schon nach kurzer Zeit erfolgte Durchmischung von
verschieden Fl ̈ssigkeitsbereichen im Ortsraum f ̈r eine Fl ̈ssigkeit mit soge-
u
u
u
nannter Kolmogorov-Anregung.
Abb. 3. Mischung farbiger Tracerteilchen (rot und blau) durch das Str ̈mungsfeld,
o
erzeugt durch Simulation der Navier-Stokes-Gleichung mit Kolmogorov-Anregung
F ̈r diesen Fall haben wir das L ̈sungsverhalten mit  ̈hnlicher Methodik wie
u
o
a
im Beispiel der Wirbelanregung untersucht [12] [13]. Die durch dieses Forcing
angetriebene Scherstr ̈mung ist nur bei hinreichend schwachem Antrieb stabil
o
[31] [46].
Das wesentliche Ergebnis unserer Untersuchungen ist ein Bifurkationsdia-
 ̈
gramm, welches den Ubergang ins Chaos detailliert erkl ̈rt. Dieser f ̈hrt uber
a
u
 ̈
mehrere Zweige von Gleichgewichtsl ̈sungen, laufenden Wellen, modulierten lau-
o
fenden Wellen, quasi-periodischen L ̈sungen (sogenannte Tori mit mehreren (in
o
diesem Falle zwei) inkommensurablen Frequenzen) und periodischen Bewegun-
gen. Die Entstehung der fortschreitenden Wellen ist auf eine Translationssym-
metrie des Systems zur ̈ckzuf ̈hren.
u
u
2.2
3D Magnetohydrodynamik und Dynamo-Effekt
Von besonderem Interesse im Hinblick auf solare und andere kosmische Akti-
vit ̈tserscheinungen sind die dreidimensionalen inkompressiblen MHD-Gleich-
a
ungen. Eines der Ziele bei ihrer Untersuchung ist die L ̈sung des Dynamo-
o
Problems [26] der kosmischen Magnetfelder. Wichtig f ̈r das Leben auf der Erde
u
ist die abschirmende Wirkung des Erdmagnetfeldes. Auch die durch Magnetfel-
der verursachte Aktivit ̈t der Sonne beeinflußt unseren Lebensraum unmittel-
a
Nichtlineare Dynamik in der Physik
57
bar. Somit ist die Kenntnis der Entstehung und Dynamik von Magnetfeldern
von großer Bedeutung.
Die sogenannten ABC-Str ̈mungen (benannt nach Arnold, Beltrami und
o
Childress) erzeugen ein wachsendes Magnetfeld im Rahmen der kinematischen
Dynamo-Theorie, in der das Geschwindigkeitsfeld vorgegeben wird und die Be-
wegungsgleichung der Fl ̈ssigkeit unber ̈cksichtigt bleibt [19]. Die ABC-Str ̈m-
u
u
o
 ̈
ungen, Uberlagerungen dreier zueinander orthogonaler schraubenf ̈rmiger Bewe-
o
gungen, sind exakte L ̈sungen der Navier-Stokes-Gleichung, wenn eine spezielle
o
Anregung, das ABC-Forcing, wirkt, das die Reibungsverluste gerade kompen-
siert. F ̈r diesen Fall haben wir das vollst ̈ndige System der MHD-Gleichungen,
u
a
mit der Reynoldszahl (bzw. der St ̈rke der Anregung) als Bifurkationsparameter,
a
untersucht [14] [16] [37].
Es wurde ein isotropes Abschneiden im Wellenzahlraum angewandt, wobei
die wahre L ̈sung durch eine Summe von Wellen verschiedener Wellenl ̈nge
o
a
approximiert wird. Das Abschneiden“ entspricht dann physikalisch der Ver-

nachl ̈ssigung von Fluktuationen auf sehr kleinen r ̈umlichen Skalen.
a
a
In den meisten Berechnungen wurde dabei ein System von 712 gew ̈hnli-
o
chen Differentialgleichungen untersucht, wobei diese Zahl sich aus der Anzahl
der Wellen ergibt, die die L ̈sung repr ̈sentieren sollen. Um nun den Einfluß
o
a
des Abschneidens auf das L ̈sungsverhalten festzustellen, wurden auch Test-
o
rechnungen mit bis zu 14776 Gleichungen durchgef ̈hrt, die belegen, daß das
u
712-dimensionale System das L ̈sungsverhalten qualitativ richtig wiedergibt.
o
Zudem wurden nichtlineare Galerkin-Verfahren benutzt. Das sind numeri-
sche Verfahren, die zum Studium des Langzeitverhaltens bestimmter dissipa-
tiver partieller Differentialgleichungen im Zusammenhang mit der Theorie der
Inertialmannigfaltigkeiten und approximierenden Mannigfaltigkeiten eingef ̈hrt
u
wurden [30]. Das wesentliche Ziel bei der Anwendung dieser Verfahren ist es,
sehr komplizierte nichtlineare Gleichungen hoher (unendlicher) Dimension durch
niedrigdimensionale Gleichungen zu charakterisieren, ohne daß dabei die qualita-
tiven Eigenschaften des hochdimensionalen Systems verlorengehen. Die aktiven
Moden des nichtlinearen Galerkin-Verfahrens wurden als L ̈sung eines endlichen
o
gew ̈hnlichen Differentialgleichungssystems berechnet, w ̈hrend der Einfluß der
o
a
restlichen Moden durch eine Versklavungsfunktion (approximierende Mannigfal-
tigkeit) ber ̈cksichtigt wurde [36]. Das ist ein Fortschritt gegen ̈ber dem einfa-
u
u
chen Abschneiden“.

Die Bifurkationsanalyse verschiedener N ̈herungen ergab, daß die prim ̈re
a
a
nichtmagnetische Gleichgewichtsl ̈sung (die ABC-Str ̈mung) in einer Hopf-Bi-
o
o
furkation instabil wird und in eine periodische L ̈sung mit Magnetfeld uber-
o
 ̈
geht, was einem generischen Dynamo-Effekt entspricht. In den nachfolgen-
den Bifurkationen wird die urspr ̈ngliche Symmetrie, die mit der ABC-Anregung
u
zusammenh ̈ngt, sukzessive gebrochen und uber Torusl ̈sungen ein chaotischer
a
o
 ̈
Zustand erreicht, der weiterhin ein Magnetfeld tr ̈gt (Abb. 4).
a
Eine große Rolle bei der Strukturbildung raum-zeitlicher Prozesse spielt die
 ̈
Symmetrie eines Problems. Es zeigen sich Ahnlichkeiten in der Entwicklung ver-
schiedenster Systeme, selbst wenn die zugrundeliegenden Prozesse unterschied-
lichen Evolutionsgleichungen gen ̈gen.
u
58
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
3 branches
4 branches
R
0
5
10
15
20
stable ABC flow unstable ABC flow
periodic branches torus branches
chaos Hopf bifurcation
Abb. 4. Schematisches Bifurkationsdiagramm f ̈r die MHD-Gleichungen mit ABC-
u
Anregung. 3 branches“ bzw. 4 branches“ bedeutet, daß 3 bzw. 4 koexistierende L ̈sun-
o


gen durch gewisse Symmetrietransformationen ineinander uberf ̈hrt werden k ̈nnen
u
o
 ̈
Die Analyse der Symmetrien f ̈hrt zu qualitativen Aussagen uber die auf-
u
 ̈
tretenden L ̈sungen. Die MHD-Gleichungen mit ABC-Forcing besitzen die Sym-
o
metrie eines W ̈rfels [1]. Dies ist auch die Symmetriegruppe der urspr ̈nglichen
u
u
nichtmagnetischen L ̈sung. Zudem konnten wir auch f ̈r die periodischen ma-
o
u
gnetischen L ̈sungen die Symmetriegruppen bestimmen (das sind Untergruppen
o
der W ̈rfelgruppe) und die zugeh ̈rigen generischen Bifurkationen untersuchen.
u
o
Es ist eines der wesentlichen Resultate der traditionellen kinematischen Dyna-
mo-Theorie [26], daß Helizit ̈t des Geschwindigkeitsfeldes den Dynamo-Effekt
a
u
a
zumindest beg ̈nstigt. Ein Vektorfeld hat Helizit ̈t, wenn seine Feldlinien einen
bevorzugten Schraubensinn (Linksschraube oder Rechtsschraube) aufweisen.
Deshalb haben wir den Einfluß der Helizit ̈t auf den Dynamo-Effekt ge-
a
nauer untersucht. Um den Grad der Helizit ̈t variieren zu k ̈nnen, haben wir
a
o
eine modifizierte, verallgemeinerte Anregung verwandt, welche das urspr ̈ng-
u
liche ABC-Forcing als Spezialfall maximaler Helizit ̈t enth ̈lt [15]. Nur wenn
a
a
die (mittlere) Helizit ̈t einen bestimmten Schwellwert uberschreitet, f ̈hrt eine
a
u
 ̈
Hopf-Bifurkation zu magnetischen L ̈sungen. Wenn dagegen die Helizit ̈t unter
o
a
diesem Schwellwert liegt, sind alle neuen L ̈sungen, darunter auch chaotische,
o
nicht-magnetisch. Dieses Bifurkationsverhalten best ̈tigt das Ergebnis der tra-
a
ditionellen kinematischen Dynamo-Theorie, daß Helizit ̈t eine wesentliche Rolle
a
f ̈r die Entstehung von kosmischen Magnetfeldern spielt. Durch die Rotation der
u
Himmelsk ̈rper entsteht sie auf nat ̈rliche Weise.
o
u
Der Grundmechanismus bei der Umwandlung kinetischer in magnetische
Energie im Dynamo-Effekt ist die Streckung von Fl ̈ssigkeits-Linienelementen.
u
Darauf aufbauend kann z.B. mittels numerischer Simulation und Berechnung ge-
Nichtlineare Dynamik in der Physik
59
eigneter Entropien und Lyapunov-Exponenten (im dreidimensionalen Ortsraum)
die Dynamo-Effektivit ̈t vorgegebener turbulenter Str ̈mungen abgesch ̈tzt wer-
a
o
a
den [3]. Wie die dabei gefundenen Maße mit der Helizit ̈t der Str ̈mung zusam-
a
o
menh ̈ngen, bleibt noch zu kl ̈ren.
a
a
In einer k ̈rzlich durchgef ̈hrten weiteren Bifurkationsuntersuchung der MHD-
u
u
Gleichungen verwenden wir an Stelle des ABC-Forcings eine Anregung (die so-
genannte Roberts-Anregung), welche ein Feld konvektionsartiger Rollen antreibt
[34]. Eine derartige Str ̈mung kann als Modell der Konvektion im  ̈ußeren Erd-
o
a
kern angesehen werden, und es wird zur Zeit an Experimenten gearbeitet, die
solche Str ̈mungen nachbilden und darauf abzielen, einen Dynamo-Effekt im La-
o
bor nachzuweisen [44].
Direkte Bifurkationsanalysen der MHD-Gleichungen, wie die soeben beschrie-
bene, erfordern noch zahlreiche Idealisierungen, und die erreichbaren Reynolds-
zahlen sind um Gr ̈ßenordungen geringer als etwa die auf der Sonne vorherr-
o
schenden. Deshalb sind zur Erkl ̈rung der beobachteten langfristigen Variation
a
der Sonnenaktivit ̈t wie auch des Erdmagnetismus Modellbildungen im Rahmen
a
der Dynamo-Theorie gemittelter Felder [26] geeigneter. In dieser Theorie wird
das mittlere Magnetfeld durch differentielle Rotation und turbulente Konvekti-
on erzeugt, wobei letztere eine mittlere kinetische Helizit ̈t aufweisen muß. Wir
a
untersuchten ein speziell zur Beschreibung des aperiodischen langfristigen Ver-
haltens der Sonnenaktivit ̈t entwickeltes niedrigdimensionales Modell, das aus
a
den maßgeblichen partiellen Differentialgleichungen mittels eines Modenansat-
zes, der nur die ersten sieben Moden enth ̈lt, abgeleitet wurde. Das qualitative
a
Verhalten dieses Modellsystems wurde numerisch mit Hilfe des Programmsy-
stems CANDYS/QA [17] untersucht. In Abh ̈ngigkeit von charakteristischen
a
Parametern zeigt das Modell periodisches, quasi-periodisches (auf Tori T 2 und
u
T 3 , die Hochindizes stehen f ̈r zwei bzw. drei inkommensurable Frequenzen) und
chaotisches Verhalten [18]. Zum Vergleich des Modells mit Beobachtungen der
Sonnenaktivit ̈t siehe Abschn. 2.3.
a
2.3
Langzeitvariabilit ̈t der Sonne
a
Die Sonnenaktivit ̈t zeichnet sich durch ausgepr ̈gte zeitliche Variationen in ei-
a
a
nem breiten Bereich von Zeitskalen aus. Wir wissen heute, daß dieser Bereich
zumindest Mikrosekunden bis einige hundert Jahre umfaßt. F ̈r die s ̈kularen
u
a
Variationen gibt es keine direkten systematischen Beobachtungen. Vielmehr wer-
den sie aus historischen Quellen —insbesondere aus dem ostasiatischen Raum—
u
m ̈hevoll erschlossen. Dort wurde sporadisch das Auftreten großer Sonnenfle-
cken dokumentiert. Ein Meilenstein war dabei der Nachweis von 5 sogenannten
großen Minima. Das sind Epochen mehrerer Jahrzehnte, in denen die Son-
nenaktivit ̈t drastisch reduziert war (Abb. 5, [10]). Derartige Variationen sind
a
f ̈r uns von großer Bedeutung, da sie eine markante Ver ̈nderung des Klimas
u
a
bewirken.
Ein vertiefter Einblick in diese langskalige Dynamik der Sonnenaktivit ̈t ist
a
nur aus indirekten Messungen zu erwarten. Dazu geh ̈ren insbesondere die Beob-
o
achtungen von Polarlichtern und — mehr noch — Isotopenmessungen. Die den
60
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Abb. 5. Beobachtungen zur Sonnenaktivit ̈t seit dem Jahre 1000 n. Chr. Der Graph
a
oben links spiegelt die Anzahl historischer Quellen aus dem asiatischen Raum wider, die
von Sonnenfleckenbeobachtungen mit bloßem Auge berichten. Die Darstellung rechts
daneben zeigt die Jahresmittelwerte f ̈r die Sonnenfleckenrelativzahlen. Die Rechteck-
u
kurve darunter deutet die Zeitr ̈ume der großen Minima an. In der vorletzten Kurve
a
sind die Resultate der Radiokohlenstoff-Messungen (∆14 C) dargestellt, die an den Jah-
resringen alter B ̈ume vorgenommen worden sind. Ganz unten ist die H ̈ufigkeit der
a
a
Erw ̈hnung von Polarlichtern in zeitgen ̈ssischen Schriften des europ ̈ischen Raumes
a
o
a
wiedergegeben. Auffallend ist die Antikorrelation zwischen der Anzahl der beobachte-
 ̈
ten Sonnenflecken bzw. Polarlichter einerseits und den Meßwerten f ̈r den 14 C-Uber-
u
schuß andererseits
Zeitraum von 7199 v. Chr. bis 1891 n. Chr. umfassende Radiokohlenstoffreihe
u
a
∆14 C ist f ̈r die Ermittlung der Variationen der Sonnenaktivit ̈t auf einer Zeit-
skala von einigen hundert Jahren von besonderer Bedeutung. Untersucht man
diese Reihe mit linearen Methoden (Spektralanalyse), l ̈ßt sich eine Periode von
a
etwas uber 200 Jahren nachweisen [40] [45]. Da die Radiokarbonreihe aber eher
 ̈
aperiodisch fluktuiert, bieten sich nichtlineare Verfahren zur Analyse an. Man
findet schnell, daß die klassischen Charakteristika der Nichtlinearen Dynamik,
wie Dimensionen oder Lyapunov-Exponenten, aus dieser Reihe nicht sch ̈tzbar
a
sind.
Wir haben festgestellt, daß die Rekurrenz-Rate sehr n ̈tzlich ist, solche Lang-
u
zeit-Variationen zu erfassen. Sie gibt an, wie h ̈ufig das System einen bestimmten
a
Bereich im Zustandsraum besucht – oder kurz, wie oft sich ein Zustand wieder-
holt. Sie gestattet insbesondere, verschiedene große Minima der Sonnenakti-
vit ̈t in der Vergangenheit aufzufinden [29]. Wenn man die Rekurrenz-Rate des
a
gesamten Datensatzes betrachtet, zeigt sich, daß das Auftreten großer Minima
ein typisches Ph ̈nomen der Sonnenaktivit ̈t ist. Die großen Minima der solaren
a
a
Aktivit ̈t sind in ihrer Wiederkehr sehr verschieden. Auff ̈llig ist auch, daß die
a
a
 ̈
j ̈ngste Epoche eine große Ahnlichkeit zu jener der mittelalterlichen Warmzeit
u
hat.
Nichtlineare Dynamik in der Physik
61
Um die Frage zu kl ̈ren, ob der der ∆14 C-Reihe zugrundeliegende Prozeß
a
ein durch Rauschen getriebener linearer – oder nichtlinearer Vorgang ist, haben
wir die Methode der Ersatzdaten benutzt. Ersatzdaten sind Zeitreihen, die den
Originaldatensatz im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften repr ̈sentieren. Mit
a
ihrer Hilfe werden statistische Tests aufgebaut, um die Eigenschaften der Ori-
ginalzeitreihe zu bestimmen. Man erzeugt Zeitreihenersatzdaten durch gezielte
Modifikation aus den Originalzeitreihen oder durch Simulation physikalisch mo-
tivierter Modelle.
Das f ̈hrte zu dem Ergebnis, daß der zugrundeliegende Prozeß auf kurzen
u
Zeitskalen nichtlinear sein muß. Nach einer Filterung der ∆14 C-Reihe zur Ent-
fernung der langzeitlichen St ̈rungen kann man die Positionen der historisch be-
o
kannten großen Minima gut lokalisieren. Durch Einbeziehung aller historischen
Beobachtungen [50] [28] und Extrapolation in die fernere Vergangenheit konnten
wir insgesamt 34 große Minima bestimmen [48].
Dieses indirekt aus Messungen gefundene Verhalten kann als Pr ̈fstein zur
u
Evaluierung theoretischer Modelle (vgl. Abschn. 2.2) benutzt werden. Dabei geht
es zun ̈chst darum zu testen, ob ein Modell ein qualitativ  ̈hnliches Verhalten
a
a
zeigt. Beispielsweise werden die großen Minima, die sich aus der Meßreihe bzw.
aus vereinfachten nichtlinearen Dynamomodellen ergeben, mit analoger Ana-
lysetechnik bestimmt und dann verglichen. Das Histogramm der beobachteten
zeitlichen Abst ̈nde zwischen den großen Minima  ̈hnelt einer Normalverteilung,
a
a
wohingegen die Verteilung der Zyklenl ̈ngen f ̈r Dynamomodelle in Richtung
a
u
sehr kurzer Abst ̈nde zwischen den Minima verschoben ist und zudem einen ex-
a
ponentiellen Abfall zeigt [48] – d.h. die Modellverteilungen weichen sehr deutlich
von den beobachteten ab.
Aus diesen qualitativen Unterschieden folgt, daß die vereinfachten Dynamo-
modelle noch weit davon entfernt sind, die Langzeitdynamik der Sonnenaktivit ̈t
a
angemessen wiederzugeben. Als wichtige Aufgabe sind also realistische Modelle
zu entwickeln, die man zugleich langzeitig simulieren kann. Derartige Modelle
sind von besonderer Bedeutung um zu unterscheiden, welche Klimavariationen
a) anthropogene Ursachen haben, b) im internen dynamischen System Erde ent-
stehen, c) prim ̈r durch Variationen der Sonne bewirkt werden.
a
2.4
Polarit ̈tswechsel des Erdmagnetfeldes
a
Das Magnetfeld der Erde ist ebenfalls durch vielf ̈ltige Variationen gekennzeich-
a
net. Besonders auff ̈llig sind die Wechsel in der Polarit ̈t des Erdmagnetfeldes
a
a
(Abb. 6). Ihre Abfolge wird oft als ein außerordentliches Beispiel komplexer
Prozesse diskutiert. Es ist allgemein anerkannt, daß die unregelm ̈ßige Aufein-
a
anderfolge der Umpolungen eine inh ̈rente Signatur des im fl ̈ssigen, elektrisch
a
u
 ̈
leitenden außeren Erdkerns arbeitenden Geodynamos darstellt. Ahnlich wie
 ̈
im Fall der Sonne ist es bisher nicht gelungen, umfassende dreidimensionale Dy-
namomodelle zur Beschreibung dieser Polarit ̈tswechsel langzeitig numerisch zu
a
simulieren. Mit Hilfe der leistungsf ̈higsten Supercomputer konnten Glatzmaier
a
und Roberts [21] [22] eine derartige Umpolung numerisch nachvollziehen. Des-
halb wurden verschiedene vereinfachte nichtlineare Modelle zur Beschreibung
des Langzeitverhaltens des geomagnetischen Feldes entwickelt.
62
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Abb. 6. Oben: Zeitliche Abfolge von Perioden konstanter Polarit ̈t des Erdmagnetfel-
a
des; die schwarzen und weißen Abschnitte geben die beiden Polarisationsrichtungen an.
Unten: Verteilung der L ̈ngen der Umkehrperioden
a
Krause und Schmidt [27] haben ein stark vereinfachtes nichtlineares Modell
vorgeschlagen, das die R ̈ckwirkung des Magnetfeldes auf die Bewegung durch
u
einen kubischen Term beschreibt.
Wir haben dieses Modell mit geologischen Daten verglichen (vgl. Abb. 6,
[49]). Die Daten umfassen 150 derartiger Umkehrungen. Deshalb ist die Berech-
nung nichtlinearer Charakteristika, wie Lyapunov-Exponenten oder Korrela-
tionsdimension, ausgeschlossen. Verschiedene datenanalytische Standardmetho-
den, wie Korrelationsfunktion oder Wahrscheinlichkeitsdichte zeigen eine uber-
 ̈
 ̈
raschend gute Ubereinstimmung von Modell und Daten.
Jedoch konnten wir mit Methoden der symbolischen Dynamik nachweisen
[49], daß das betrachtete Modell nicht in der Lage ist, die dynamischen Eigen-
schaften des beobachteten Prozesses wiederzugeben. Genauer gesagt, die Auf-
einanderfolge kurzer und langer Zeiten konstanter Polarit ̈t unterscheidet sich
a
in Modell und Daten. Bei der symbolischen Dynamik werden statt einer kon-
tinuierlichen Zustandsvariable einige wenige markante Symbole eingef ̈hrt, die
u
einen bestimmten Zustandsbereich kennzeichnen, aber trotzdem das Wesen des
Prozesses qualitativ gut erfassen. Es handelt sich also hier um Vereinfachun-
gen, die das Wesentliche hervorheben und unwichtigere Details vernachl ̈ssi-
a
gen. Die signifikanten Unterschiede werden durch Algorithmische Komplexit ̈t
a
bzw. Renyi-Information der dynamisch transformierten Symbolfolgen zum Aus-
druck gebracht.
Folglich ergibt sich die Aufgabe, Modelle zu entwickeln, die auch die komple-
xe Dynamik der Polarit ̈tswechsel wiederzugeben verm ̈gen. Das ist von großer
a
o
Aktualit ̈t, weil kleinerskalige Fluktuationen des Erdmagnetfeldes auf einen nahe
a
bevorstehenden weiteren Polarit ̈tswechsel hindeuten.
a
Nichtlineare Dynamik in der Physik
3
63
Planetare Ringe: Granulare Gase im All
Die Experimente der Raumsonden Pioneer und Voyager offenbarten eine un-
geahnte Strukturvielfalt der Ringsysteme der vier Riesenplaneten Jupiter, Sa-
turn, Uranus und Neptun. Die wohl uberraschendsten Resultate der Voyager-
 ̈
Missionen bez ̈glich planetarer Ringe waren:
u
• der Nachweis von Ringsystemen bei allen Riesenplaneten
• ihre extrem geringe vertikale Ausdehnung (Dicke) von weniger als 100 m
• die Beobachtung von Feinstrukturen bis hinunter zu den Aufl ̈sungsgrenzen
o
der Raumsondenexperimente von ca. 100 m
Die Ursache f ̈r diese Strukturen ist eine komplexe Dynamik der Ringteil-
u
chen, die durch  ̈ußere Kraftfelder und nichtlineare Wechselwirkungen der Teil-
a
chen untereinander bestimmt ist.
Abb. 7. Saturn und seine Ringe: Eine Aufnahme von Voyager 1 (aus ca. 1.5 Millionen
Kilometer Entfernung) als die Sonde das Saturn-System verl ̈ßt. Zu den Gr ̈ßenverh ̈lt-
a
o
a
nissen: Der Durchmesser Saturns betr ̈gt 120 000 km, die radiale Ausdehnung der Ringe
a
ca. 70 000 km.
 ̈
In diesem Abschnitt geben wir einen Uberblick uber einige Typen von Ring-
 ̈
strukturen sowie deren physikalische Ursachen. Dabei gilt unser Interesse den
Hauptringen (im Gegensatz zu den diffusen Staubringen, wie z.B. dem Jupiter-
ring) der Planeten Saturn, Uranus und Neptun, die eine sehr geringe Ringdicke
H
100 m haben und deren Dynamik im wesentlichen durch gravitative Wech-
selwirkungen und durch dissipative St ̈ße zwischen den Teilchen bestimmt wird.
o
Zudem wird das Teilchenensemble durch die Gravitation zahlreicher Monde
– inmitten und außerhalb der Ringe – stetig gest ̈rt. Die Herausbildung der
o
reichen Strukturwelt ist eine Reaktion des Ringmaterials auf diese Einfl ̈sse.
u
64
3.1
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Kinetische Beschreibung – Dicke der Ringe
Die Ringsysteme der Riesenplaneten bestehen, vergleichbar mit einem Mol eines
Gases oder einer Fl ̈ssigkeit, aus einer unvorstellbar großen Zahl von einzelnen
u
Teilchen, deren Gr ̈ßen von mikrometergroßem Staub bis hin zu kilometergroßen
o
Brocken (sogenannte Moonlets) reichen. Trotz der offensichtlichen Unterschie-
de zwischen Gasmolek ̈len und granularen Teilchen – in Gr ̈ße, Form, Art der
u
o
Wechselwirkung mit anderen Mitgliedern des Ensembles – finden die Methoden
der klassischen, kinetischen Theorie der Gase erfolgreich Anwendung bei der
Erkl ̈rung der in den Ringen beobachteten Strukturen.
a
Den gr ̈ßten Einfluß auf alle Teilchen des Ensembles hat die Gravitation
o
des Planeten. Vernachl ̈ssigt man alle St ̈rungen bis auf die Schwerkraft des
a
o
Zentralk ̈rpers, bewegen sich alle Ringpartikel auf Kepler-Ellipsen. Das ist tat-
o
s ̈chlich in erster N ̈herung der Fall, aber es bleiben Fragen offen: Warum sind
a
a
die beobachteten Bahnen fast exakt kreisf ̈rmig und warum bewegen sich auch
o
nahezu alle Teilchen – mit sehr geringen Abweichungen – in einer Ebene? Zur
Illustration sei als Vergleich das Verh ̈ltnis Dicke zu L ̈nge einer Rasierklinge
a
a
erw ̈hnt, welches 1000 − 10 000 mal gr ̈ßer ist als das entsprechende Verh ̈ltnis
a
o
a
bei den Ringen. Antwort auf die oben genannten Fragen gibt die kinetische
Theorie granularer Gase, deren Kernst ̈ck die dissipativen St ̈ße zwischen den
u
o
Teilchen sind.
Deshalb haben wir die Dynamik des Stoßes zwischen zwei kugelf ̈rmigen (der
o
Einfachheit wegen) Eis- oder Gesteinsk ̈rnern eingehend untersucht. Im Rahmen
o
einer visko-elastischen Kontinuumstheorie gelang es [6] [41], die Ergebnisse von
Laborexperimenten zum Stoß von zwei Eiskugeln [5] recht gut zu reproduzieren.
Es zeigte sich, daß die beim Stoß dissipierte Bewegungsenergie in nichtlinearer
Weise von der Geschwindigkeit abh ̈ngt, mit der die Teilchen stoßen. Die Kennt-
a
u
nis dieses Zusammenhangs ist einerseits wichtig f ̈r die kinetische Beschreibung
eines Systems vieler Teilchen, andererseits macht der komplizierte, nichtlineare
Charakter der Wechselwirkung eine analytische Beschreibung unm ̈glich.
o
Dennoch ist die gewonnene Einsicht in die Dynamik des Stoßes granularer
Teilchen ein Fortschritt gegen ̈ber der oft verwendeten Vernachl ̈ssigung der
u
a
Abh ̈ngigkeit der Dissipation von der Stoßgeschwindigkeit. Genauer genommen
a
h ̈ngt die Dissipation von der Impuls ̈nderung beim Stoß – und damit von den
a
a
Massen der an der Kollision beteiligten Teilchen – ab. Aber der Einfachheit hal-
ber behandeln wir hier nur den Fall identischer Teilchen. Um die Bedeutung
dieses Zusammenhangs f ̈r die Dynamik der planetaren Ringe zu illustrieren, sei
u
die Folge o.g. Vernachl ̈ssigung f ̈r die Beschreibung der Stabilit ̈t planetarer
a
u
a
Ringe kurz erw ̈hnt. Goldreich und Tremaine [23] zeigten, daß diese Abh ̈ngig-
a
a
keit in den Ringen f ̈r die Einstellung eines Quasi-Gleichgewichtes sorgt. Wird
u
sie vernachl ̈ssigt und statt dessen angenommen, daß bei jedem Stoß gleich-
a
viel Energie dissipiert wird, dann w ̈rde, je nachdem wie groß der Anteil an
u
dissipierter Energie pro Stoß angenommen wird, der Ring entweder in eine Mo-
nolage kollabieren (alle Teilchen liegen in einer Ebene – kalter“ Ring), oder

die thermischen Bewegungen w ̈rden ohne Grenze wachsen – die Ringe w ̈rden
u
u
verdampfen“ ( heißer“ Ring).


Nichtlineare Dynamik in der Physik
65
H ̈ngt jedoch die Dissipation von der Geschwindigkeit der stoßenden Teil-
a
chen ab, dann sorgt eine Balance zwischen durch Reibung verursachter Heizung
und der stoßbedingten K ̈hlung f ̈r die Einstellung einer Gleichgewichts- Tem-
u
u

peratur“ und eine endliche Dicke der Ringe. Die Reibung wiederum wird durch
die Abnahme der Kepler-Bahngeschwindigkeit der granularen Materie mit dem
Abstand vom Planeten verursacht.
Abb. 8. Links: Vertikale Verteilung der Teilchen in einem Modellring f ̈r weniger dis-
u
sipative (breitere Verteilung) und sehr dissipativ stoßende Granulen, gewonnen mit
numerischen Teilchensimulationen. Mitte: Teilchenkonfiguration zu Beginn der Simu-
lation. Die vertikale Achse stellt die z-Richtung (senkrecht zur Ringebene) dar. Rechts:
Teilchenkonfiguration im station ̈ren Gleichgewicht. Es hat sich eine vertikale Strati-
a
fikation herausgebildet, die von der thermischen Bewegung des Ringteilchenensembles
( Temperatur“) bestimmt wird

Die Einstellung dieser Balance wurde numerisch simuliert [35] und die Er-
gebnisse sind in Abb. 8 dargestellt. Dieses Gleichgewicht – erm ̈glicht durch
o
die variable Stoßdynamik – verhindert, daß alle Teilchen in eine Ebene herab-
sinken und daß die thermischen Bewegungen ganz ausged ̈mpft werden. Heikki
a
Salo, ein f ̈hrender Theoretiker auf diesem Gebiet, faßt diesen Sachverhalt mit
u
folgenden Worten zusammen: Planetary rings are extremely flat - but (!) not

two-dimensional“, wie wir es auch mit unseren Simulationen – siehe Abb. 8 –
reproduzieren.
o
Eine andere Folge der inelastischen St ̈ße ist die Eigenschaft granularer Stof-
fe, Klumpen ( Cluster“) zu bilden. Diese sogenannte Cluster“-Instabilit ̈t ha-
a


ben wir in einer weiteren Arbeit untersucht [42], wobei uns die Unterschiede
dieses Strukturbildungsprozesses im kr ̈ftefreien Fall (ein granulares Gas weit
a
ab von jeder St ̈rung – z.B. intergalaktische Staubwolken) zu dem in einem Zen-
o
tralkraftfeld vorrangig interessiert haben.
Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in Abb. 9 dargestellt. Man
sieht deutlich die Unterschiede. W ̈hrend sich die Cluster“ im kr ̈ftefreien Fall
a
a

nahezu in allen Richtungen herausbilden, f ̈hrt die Scherung der Geschwindigkeit
u
in den Ringen zu der Herausbildung einer Vorzugsrichtung der Strukturen.
Der interessanteste Unterschied liegt allerdings in der Stabilit ̈t der gebil-
a
deten Cluster“. Die Strukturen sind im kr ̈ftefreien Fall quasi-stabil und die
a

Gr ̈ße der Klumpen h ̈ngt von der Dissipation (also von der Stoßdynamik) ab.
o
a
66
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Im Gegensatz dazu sind die Cluster“ in einem Kraftfeld nicht stabil, wenn

beim Teilchenstoß keine attraktiven Wechselwirkungen eine Rolle spielen (z.B.
Adh ̈sion, siehe [42]).
a
Abb. 9. Links: Schnappschuß einer Simulation mit 20 000 inelastisch stoßenden Teil-
chen (Radius = 1 cm). Man sieht deutlich die Formierung von Clustern“. Rechts:

Schnappschuß einer Simulation mit 20 000 Teilchen (Radius = 1 cm) im Kraftfeld ei-
nes Planeten. Der Mittelpunkt der Simulationsbox (Koordinaten: 0, 0) bewegt sich
auf einer Kepler-Kreisbahn, die negative x-Achse zeigt in die Richtung der mittleren
Bahnbewegung, der Planet befindet sich in der negativen y-Richtung. Die Situation
entspricht den Verh ̈ltnissen im B Ring von Saturn (s. Abb. 1: das hellste = dichteste
a
Gebiet inmitten der Ringe)
Wenn also dissipative St ̈ße allein nicht f ̈r die beobachtete Strukturvielfalt
o
u
in planetaren Ringen verantwortlich sein k ̈nnen, m ̈ssen noch andere Prozesse
o
u
wirken, die das Dichtefeld beeinflussen.
3.2
Einfluß von Satelliten
Neben der Vielzahl interessanter, meist noch ungekl ̈rter, Ph ̈nomene werden
a
a
in diesem Unterabschnitt Strukturen beschrieben, die durch kleine, inmitten der
Ringe befindliche Satelliten (sogenannte Moonlets) verursacht werden.
Wichtig sind auch hier die inelastischen St ̈ße in dem von einem Mond
o
gest ̈rten Ring. Sie bewirken, daß die sich die entwickelnden Strukturen einen
o
station ̈ren Zustand anstreben, den sie ohne Dissipation nie erreichen w ̈rden.
a
u
 ̈
Ahnlich wie bei der physikalischen Beschreibung der Ringdicke erm ̈glichen die
o
dissipativen St ̈ße wieder die Einstellung eines Quasi-Gleichgewichts zwischen
o
dem Energieeintrag durch die vom Mond verursachte St ̈rung und dem Verlust“
o

an mechanischer Energie infolge der inelastischen St ̈ße. Es ist nat ̈rlich auch
o
u
hier kein echter Energieverlust, sondern mechanische Energie wird in Deforma-
tions- bzw. W ̈rmeenergie in den Teilchen selbst umgewandelt, die letztlich ab-
a
gestrahlt wird.
Wichtig ist aber, daß ohne die St ̈ße die Strukturen nicht beobachtbar w ̈ren,
o
a
da die stetige Energiezufuhr durch den st ̈renden Satelliten den Ring aufheizen
o
Nichtlineare Dynamik in der Physik
67
Abb. 10. Die farbkodierte Teilchendichte eines Ringes, der aus 219 = 524288 granu-
laren Partikeln besteht und der von einem kleinem Mond (Position: (1, 0)) gravitativ
beeinflußt wird. Beide Bildteile muß man sich als aufgeschnittenen geschlossenen Ring
vorstellen. Mit dem radialen Abstand ist die Entfernung vom Planeten bezeichnet und
die azimutale L ̈nge mißt die Position eines Teilchens in Bezug auf die des Mondes.
a
Links: Simulation bei Vernachl ̈ssigung der Teilchenst ̈ße; Rechts: Simulation, bei der
a
o
teilweise inelastische St ̈ße ber ̈cksichtigt worden sind
o
u
und er samt seiner Strukturen dispergieren w ̈rde. Diese Effekte wurden ebenfalls
u
mit numerischen Methoden untersucht [25]. Einige Resultate sind in Abb. 10
dargestellt, wo eine halbe Million Teilchen in einem Modellring der St ̈rung
o
eines Satelliten ausgesetzt waren, der sich inmitten des Ringes bewegte. In beiden
Bildteilen ist die farbkodierte Teilchendichte eines kompletten Ringes dargestellt.
Schwarz bedeutet niedrige Dichte; Gelb bis Orange markieren die Maxima des
Dichtefeldes.
Der linke Teil der Abbildung geh ̈rt zu einer Simulation ohne St ̈ße. Es ist
o
o
a
nur ein Schnappschuß zu einer bestimmten Zeit. Die Strukturen  ̈ndern sich noch
unabl ̈ssig und werden, wie die Theorie zeigt, zeitlich asymptotisch verschwin-
a
den.
Der rechte Bildabschnitt zeigt eine Simulation mit Teilchenst ̈ßen, bei der die
o
Strukturen sich kaum noch  ̈ndern. Die hierbei gefunden Merkmale des Dichte-
a
feldes – im wesentlichen eine L ̈cke um die Bahn des Mondes sowie die markanten
u
Wellenerscheinungen – sind sp ̈ter tats ̈chlich in einem einzigen Fall in den Rin-
a
a
gen des Saturn beobachtet worden, was dann zur Entdeckung des Satelliten Pan
f ̈hrte [38] [43].
u
Fazit: Die Einstellung eines Gleichgewichts zwischen der Dissipation von Bewe-
gungsenergie durch teilweise inelastische St ̈ße zwischen den Ringteilchen und
o
dem Forcing“ durch die Gravitationsfelder des Planeten und einer Vielzahl von

Satelliten bzw. Moonlets sichert die Stationarit ̈t und damit die Beobachtbarkeit
a
vieler Strukturen. Dazu geh ̈ren sowohl die extrem geringe Dicke aller Ringe
o
68
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
Abb. 11. Folgen eines Erdbebens der Magnitude 5.6
als auch viele L ̈cken und Wellenerscheinungen, die von Monden hervorgerufen
u
werden.
Allerdings limitiert die stetige Dissipation von Bewegungsenergie auch das
Alter der Ringe, so daß heute klar zu sein scheint, daß planetare Ringe nicht
zeitgleich mit den Planeten entstanden sein k ̈nnen [11] [9] [8]. Die Entstehung
o
dieser kosmischen Strukturexoten ist bis heute noch nicht endg ̈ltig gekl ̈rt.
u
a
4
Nichtlineare Analyse von Erdbebendaten
Seismische Aktivit ̈t ist ein typisches Beispiel komplexer Raum-Zeit-Dynamik.
a
Besondere Beachtung findet dabei das Auftreten starker Erdbeben, f ̈hren sie
u
doch meist zu katastrophalen Sch ̈den (Abb. 11). Seismische Aktivit ̈t schließt
a
a
aber auch vielf ̈ltige Mikroereignisse ein. Die Summe aller Ereignisse ist im
a
Gutenberg-Richter-Gesetz zusammengefaßt [24]
log10 N = a − bM ,
(1)
wobei N die Anzahl der Erdbeben in einer Region mit einer St ̈rke von minde-
a
stens M und a, b regional abh ̈ngige Parameter sind (Abb. 12).
a
Wegen dieses Potenzgesetzes werden Erdbeben oft als Ausdruck selbstor-
ganisierter Kritizit ̈t (SOC) angesehen [47]. Darunter wird das Verhalten eines
a
hochdimensionalen dissipativen Systems verstanden, einen kritischen Zustand zu
entwickeln, der weder durch charakteristische L ̈ngen noch Zeiten ausgezeichnet
a
ist. Am einfachsten l ̈ßt sich das am Beispiel des Sandhaufen-Modells erkl ̈ren:
a
a
Sch ̈ttet man stetig Sand auf die Spitze eines Sandhaufens, dann erh ̈ht sich
u
o
der Neigungswinkel seiner Oberfl ̈che solange, bis ein kritischer Wert erreicht
a
wird, bei dem eine Kaskade von Lawinen einsetzt. Diese sorgt daf ̈r, daß sich
u
der Winkel wieder verringert und das System f ̈r eine Weile – solange der Sch ̈tt-
u
u
winkel kleiner als der kritische Winkel ist – zur Ruhe kommt. Die r ̈umliche und
a
Nichtlineare Dynamik in der Physik
(a)
(b)
10 0
5 10 - 1
4
6
69
b = 0.88
3
2
b=0.9
10 - 2
10 - 3
10 - 4
1
0
1
2
3
4
5
M
6
7
8
0
1
2
3
4
M
Abb. 12. Die Verteilung der Magnituden f ̈r (a) den NCSN-Erdbebenkatalog von
u
Nordkalifornien und f ̈r (b) eine Simulation des SOC-Modells von Olami, Feder und
u
Christensen [32], wobei N die Anzahl und P die Wahrscheinlichkeit beschreibt. Die
Geraden entsprechen jeweils dem Gutenberg-Richter-Gesetz mit b = 0.88 bzw. b = 0.9
zeitliche Abfolge der Lawinen zeichnet sich dann durch keine charakteristischen
Skalen aus – es gibt Lawinen jeder Gr ̈ße (der Systemgr ̈ße entsprechend) und
o
o
zu allen Zeitpunkten, solange der Winkel im kritischen Bereich ist [2].
 ̈
Ahnliche kritische Zust ̈nde scheinen die Spannungen in unserer Erdkruste
a
anzunehmen, die sich, wenn kritische Werte uberschritten werden, in Beben un-
 ̈
terschiedlicher St ̈rke entladen. Diese wichtige Eigenschaft erm ̈glicht jedoch
a
o
leider keine quantitativen Aussagen zur Dynamik von Erdbeben, insbesondere
zu deren Vorhersagbarkeit.
Die bisher bekannten Verfahren zur Analyse von Erdbebenkatalogen verwen-
den zumeist Standardtechniken der linearen und nichtlinearen Zeitreihenanalyse,
wobei die mehrdimensionalen Daten (Zeit, r ̈umliche Koordinaten und Magni-
a
tude) zun ̈chst zu eindimensionalen Zeitreihen vereinfacht werden.
a
In unserer Arbeit bildet die Charakterisierung der Raum–Zeit–Dynamik den
Schwerpunkt. Als erster Zugang wurde die Suche nach charakteristischen r ̈um-
a
lichen Skalen gew ̈hlt. Ausgangspunkt ist dabei eine Idee, die Rand und Wilson
a
[33] f ̈r Systeme vorgeschlagen haben, deren Dynamik auf großen Skalen sta-
u
tion ̈r wird. Da diese Voraussetzung f ̈r Erdbebendaten nicht erf ̈llt ist, muß
a
u
u
das Konzept von Rand geeignet modifiziert werden. Da auf kleinen Raumska-
len stochastische Effekte die Dynamik dominieren und auf großen Skalen starke
r ̈umliche Mittelung erforderlich ist, suchen wir nach mittleren Skalen, auf denen
a
einerseits ein deterministisches Signal erkennbar ist und andererseits m ̈glichst
o
wenig dynamische Information durch Mittelung verloren geht.
Zur Bestimmung von mittleren Skalen wurde ein Verfahren entwickelt, das
auch f ̈r andere r ̈umlich ausgedehnte Systeme vielversprechend erscheint. Es
u
a
basiert auf der Annahme der Existenz instabiler periodischer Orbits als Maß f ̈r
u
niedrigdimensionale und deterministische Dynamik [51].
Durch Vergleich mit Ersatzdaten ergibt sich als Resultat ein Satz von Raum-
bereichen, der sich durch sehr hohe Signifikanzen f ̈r niedrigdimensionalen und
u
70
J. Kurths, N. Seehafer und F. Spahn
nichtlinearen Determinismus auszeichnet. Diese charakteristischen Raumberei-
che eignen sich somit f ̈r weitere Untersuchungen des dynamischen Verhaltens.
u
Von besonderem Interesse ist die Frage nach der Vorhersagbarkeit von großen
Erdbeben. Wichtiger Ausgangspunkt ist hierbei das Auftreten von Vorl ̈ufer-
a
ph ̈nomenen. So treten in den letzten Tagen vor dem Hauptbeben h ̈ufig einige
a
a
Vorbeben auf. Die Rate R der Vorbeben wie der Nachbeben l ̈ßt sich im Mittel
a
mit derselben Gesetzm ̈ßigkeit
a
R ∼ (c + | t|)−p ,
p≈1,
(2)
beschreiben, wobei t die Zeitdifferenz zum Hauptbeben und c eine kleine Kon-
stante angibt. Lediglich in der Proportionalit ̈tskonstanten unterscheiden sich
a
Vor- und Nachbeben, wobei die Anzahl der Nachbeben die Zahl der Vorbeben
um ein Vielfaches uberschreitet. Außerdem wurde in vielen Einzelf ̈llen eine seis-
a
 ̈
mische Ruhe, d.h. eine uber Monate und Jahre anhaltende Periode niedrigerer
 ̈
Seismizit ̈t, als weiteres Vorl ̈uferph ̈nomen beobachtet.
a
a
a
Trotz dieser bekannten Vorl ̈uferph ̈nomene ist es bis jetzt nur in Einzelf ̈llen
a
a
a
gelungen, ein Hauptbeben erfolgreich vorherzusagen. Dies liegt daran, daß sich
Vorbeben im Moment ihres Auftretens nicht signifikant von anderen Erdbeben
unterscheiden und daß Schwankungen in der Seismizit ̈t auch ohne folgendes
a
Hauptbeben auftreten. Aufgrund der vielen fehlgeschlagenen Versuche wird in
a
letzter Zeit diskutiert, ob Erdbeben inh ̈rent unvorhersagbar sind, weil sich die
Erdkruste wahrscheinlich in einem Zustand der selbstorganisierten Kritizit ̈t
a
(SOC) befindet [20].
Wir haben uns dieser Diskussion mit zwei Fragestellungen gen ̈hert: (i) Kann
a
ein einfaches SOC-Modell gefunden werden, welches neben der Magnitudenver-
teilung (Gutenberg-Richter-Gesetz) auch die Vor- und Nachbeben richtig be-
schreibt? (ii) Falls ein entsprechendes SOC-Modell existiert, was kann uber die
 ̈
Vorhersagbarkeit großer Ereignisse in diesem Modell ausgesagt werden?
Die erste Frage kann positiv beantwortet werden: Durch eine zus ̈tzliche
a
Ber ̈cksichtigung eines Relaxationsprozesses in der Kruste konnten wir ein be-
u
stehendes SOC-Modell f ̈r Erdbeben [32] so modifizieren, daß Vor- und Nach-
u
bebensequenzen mit der beobachteten Charakteristik (2) auftreten (Abb. 13).
Ebenso beobachtet man in denselben Modellsimulationen auch eine seismische
Ruhephase vor vielen großen Ereignisse.
In ersten Untersuchungen bez ̈glich der Vorhersagbarkeit in diesem SOC-
u
Modell zeigt sich, daß mit Hilfe der seismischen Ruhe und der Vorbeben zwar
keine direkte Vorhersage des n ̈chsten Hauptbebens m ̈glich ist, daß aber die
a
o
Analyse seismischer Schwankungen zu einer verbesserten Gefahrenabsch ̈tzung
a
f ̈hren kann. Zu dem gleichen Ergebnis f ̈hren auch entsprechende Analysen von
u
u
realen Erdbebenkatalogen, die aber f ̈r sich genommen wegen des beschr ̈nkten
u
a
Umfangs und der Qualit ̈t der Daten nur eine schwache statistische Aussage
a
erm ̈glichen.
o
Nichtlineare Dynamik in der Physik
71
Rat
0 < r < 10
10 < r < 20
r > 20
0.1
0.05
0
-4
-2
0
2
4
6
2 . 10 1
1
∼ (0.6 −
10
t)−1.1
∼ (0.4 +
2
1
10 10
10
t)−1.1
10 0
0
-5 . 10
0
-10
0
-10
-1
10
-1
10
0
10
1
10
2
t
Abb. 13. Raumzeitliche Anh ̈ufung von Erdbeben vor und nach Hauptbeben in dem
a
modifizierten SOC-Modell. Oben: Die Rate in Abh ̈ngigkeit vom Abstand r zum Epi-
a
zentrum des Hauptbebens. Unten: Die uber viele Hauptbeben gemittelten Kurven der
 ̈
Vorbeben (links) und Nachbeben (rechts) mit angepaßten Potenzgesetzen entsprechend
Gleichung (2)
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